Warum Zeltlager?

Kurt Löwenstein

Die Kinderfreundebewegung hat den Beweis für ihre Lebenskraft allein schon durch ihr Wachstum erbracht. So bedeutsam die Feststimmung bei den großen Massenfeiern der Arbeiterschaft für die Klassenerziehung ist, so reicht sie doch nicht aus, um den Alltag des Lebens mit sozialistischer Einstellung dauernd zu erfüllen. Die Gruppenarbeit, die in den meisten Fällen drei- bis viermal in der Woche in den Nachmittagsstunden erfolgt, bildet mit den Wochenendfahrten zusammen den Kern der Erziehungsarbeit. Doch es stellte sich bald heraus, daß besonders für den aufbauenden Teil, für die Gewöhnung an genossenschaftliche Aktivität, die Gruppenarbeit im Heim oder in der Schulklasse nicht ausreichte. Kinder und Helfer drängten nach neuen Formen. Da bot sich in der Zeltarbeit ein besonders günstiges Feld. Das großstädtische Haus bietet dem Kinde wenig Möglichkeit zur selbständigen Betätigung. Gas, Elektrizität, Wasserleitung und gar Dampfheizung können nur von fachlich ausgebildeten Arbeitern angelegt und ausgebaut werden. Für kindliche Betätigung fehlt nahezu jede Möglichkeit. Kinder können keine Häuser bauen, noch nicht einmal primitive Hütten, aber ein Rundzelt können sie transportieren, aufstellen und herrichten. Das Rundzelt, das wir in der Kinderfreundebewegung haben, bietet Raum für 15 Kinder und zwei Helfer. Die sachgemäße Verpackung, der Transport, das Aussuchen des Platzes, das Einschlagen der Pflöcke, das Herrichten der Schlafplätze, die Unterbringung der Sachen, all diese Dinge enthalten eine Menge kleiner und verantwortungsvoller Arbeiten, die von der Gruppe gemeinschaftlich geleistet werden können. Es ist noch nicht einmal wesentlich, daß Geschicklichkeit, Umsicht, Genauigkeit bei diesen Arbeiten erforderlich sind, sondern viel wesentlicher ist, daß hier die Notwendigkeit der Arbeit, ihr Nutzen für die Zeltgemeinschaft unmittelbar anschaulich wird. Genossenschaftliches Tun, genossenschaftliche Disziplin, genossenschaftliche Verantwortung brauchen hier nicht erst mit schönen Worten gelehrt zu werden, sondern sie entwickeln sich als unmittelbare Folge aus den Lebensbedürfnissen und ihrer Befriedigung. Es wird hier in primitiver Form Bedarfswirtschaft in unmittelbarem Sinne getrieben. […]

Was wollen wir Kinderfreunde mit unseren Kinderrepubliken? Unsere Roten Falken singen „Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt“, und die Kinderrepubliken sind gar nichts anderes als die praktische, kindlichem Können angepaßte Verwirklichung dieses Gedankens. Denkt euch einmal in folgendes Erlebnis hinein: 2000 Kinder kommen schwerbepackt mit Rucksäcken in geschlossenen Zügen mittags am Lagerplatz an. Der Lagerplatz ist eine große, grüne Fläche, und am Eingange dieses Platzes lagert eine große Menge verschnürter Zelte mit zugehöriger Zeltstange. Die Rucksäcke werden abgelegt und ein ungeheures Leben und Treiben beginnt. Tausende von Händen und Beinen regen sich. Es wird geschleppt, geklopft, und ein Zelt nach dem anderen wird auf vorher nach einem Plane festgelegten Plätzen errichtet. Mitten auf dem Platze, an erhöhter Stelle, ist ein Mast errichtet. Abends um 6 Uhr ertönen Alarmsignale, und alle eilen unter Singen und Musizieren herbei, die rote Fahne wird gehißt, und die Kinderrepublik steht. Glaubt ihr nicht, daß Kinder, die sich aus eigener Arbeit eine solche Zeltstadt aufgebaut haben, einen Begriff von schaffender Arbeit für die Gemeinschaft haben? Für Kinder, die das einmal miterlebt haben, hat das Wort „Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt“ anschaulich Lebendigkeit, ist Wille und Tat zu gleicher Zeit geworden. […]

Wir Kinderfreunde bringen unsere Falken bei dem Aufbau der Kinderrepubliken mitten in die Werkstatt staatsbürgerlichen Werdens. Für sie sind Zeltgemeinschaft, Zeltobmann, Gemeindevertretung, Bürgermeister, Lagerparlament, Sachverwalter und Präsident keine leeren Worte. Alles ergibt sich für sie aus der praktischen Notwendigkeit ihres eigenen Lebens. Sie selbst sind nicht nur beteiligt, sie schaffen alles aus der eigenen Erfahrung ihres Lebens und in der Begeisterung, sich selber einen Staat zu bauen. Sie lernen daher nicht nur Staatsbürgerkunde, sondern sie werden Staatsbürger aus eigenem Erleben, aus eigenem Können, aus eigener Verantwortung heraus. Diese Falken, die durch die Kinderrepubliken hindurchgegangen sind, werden einmal ein ganz anderes Können für den Staat, in dem sie als Erwachsene kämpfen und wirken sollen, mitbringen als wir, die wir in der Bewunderung des Obrigkeitsstaates und in dem Formalismus bürokratischen Beamtentums herangewachsen sind.

von Kurt Löwenstein (zuerst in: Der Helfer für unsere praktische Arbeit, Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde Deutschlands 4 (1931), Nr. 9-12 (Mai), S. 97 ff., Quelle: arbeiterjugend.de)